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Wie „Bild“ versucht, „Focus Online“ in die Bezahlschranken zu weisen

Eine tolle Sache, dieser Streit zwischen „Bild“ und „Focus Online“. Seit Wochen schon kann man auf Twitter eine größere Zahl von Wut-Rülpsern von „Bild“-Leuten vernehmen. Sie ärgern sich schwarz, dass „Focus Online“ mit großer Konsequenz ihre exklusiven und für die Leser kostenpflichtigen „Bild plus“-Geschichten übernimmt und gratis anbietet.

Gestern hat sich Bild.de-Chef Julian Reichelt dann in den Branchendienst turi2 übergeben. Er bezichtigt den „Focus Online“-Chef Daniel Steil des Diebstahls und der Hehlerei. Steil hat früher in leitender Position bei „Bild“ gearbeitet, weshalb Reichelt ihm nachtrauert: „Er ist auf die dunkle Seite gewechselt.“ (Reichelt meint vermutlich: auf die andere dunkle Seite.)

Die „Bild“-Zeitung ist übrigens das Blatt, das vor drei Jahren 60.000 Euro Schadensersatz an die Zeitschrift „Lettre International“ zahlen musste, weil es ohne Genehmigung lange Passagen aus einem Interview mit Thilo Sarrazin abgedruckt hatte, aber das nur am Rande.

Um die Aufregung der „Bild“-Leute zu verstehen, muss man sich ansehen, wie hemmungslos „Focus Online“ die fremden Inhalte ausschlachtet. Nehmen wir den gestern veröffentlichten „Focus Online“-Artikel „TV-Moderatorin streitet versuchten Mord ab“. Er beruht auf zwei „Bild plus“-Artikeln („Staatsanwalt ermittelt gegen ‚Big Brother‘-Star“, „Jetzt spricht das Unfall-Opfer“). Ich habe dem kompletten „Focus Online“-Artikel mal die entsprechenden Original-Passagen gegenüber gestellt:

„Focus Online“

„Bild“

Der Unfall liegt schon eine Weile zurück, doch für einen Lastwagenfahrer hatte er schreckliche Folgen: Der 47-Jährige erlitt lebensgefährliche Verletzungen an der Halswirbelsäule und den Beinen. Zudem wurde er von den bleibenden Schäden berufsunfähig. Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Die Polizei ermittelte und glaubt nun die Täterin gefunden zu haben. Nach einem Bericht der „Bild“-Zeitung, soll es sich um eine TV-Moderatorin handeln. Demnach soll die 32-Jährige nicht nur die Verursacherin des tragischen Autounfalls zu sein, sondern auch Fahrerflucht und einen Vertuschungsversuch begangen haben.

Der Unfall ist fast ein Jahr her.

Der Lkw-Fahrer kam mit lebensgefährlichen Verletzungen an der Halswirbelsäule und an den Beinen ins Krankenhaus.

Jetzt will die Polizei die kaltblütige Unfall-Fahrerin ermittelt haben!
Nach BILD-Informationen soll es sich um die TV-Moderatorin und „Big Brother“-Star […] handeln.

Der Unfall ereignete sich am 26. Juli 2013. An diesem Morgen war ein Lkw-Fahrer kurz vor sechs Uhr früh dabei, seinen Lastwagen an einer Straße im Berliner Stadtteil Altglienicke zu überprüfen. Damals sei der 47-Jährige von einem unbekannten Fahrzeug erfasst worden, berichtet ein Polizeisprecher „Bild“ gegenüber. Der Autofahrer flüchtete jedoch und ließ den schwerverletzen Mann auf der Fahrbahn liegen.

Es war in den Morgenstunden des 26. Juli 2013. Der Lkw-Fahrer (47) war kurz vor 6 Uhr dabei, seinen Lastwagen an der Straße Am Falkenberg im Berliner Stadtteil Altglienicke fahrbereit zu machen.

Ein Polizeisprecher: „Der 47-Jährige wurde von einem damals unbekannten Fahrzeug erfasst. Der Autofahrer flüchtete und ließ den schwerverletzen Mann auf der Fahrbahn liegen.“

„Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern“, erzählte der Mann jetzt der „Bild“-Zeitung. Er müsse immer noch fünf Mal in der Woche zur Reha und Schmerzmittel nehmen. „Ich kann heute mit meinen Wunden leben. Aber kann das der Täter mit seinem schlechten Gewissen?“

Der LKW-Fahrer zu BILD: „Als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mal mehr an meinen Namen erinnern.“ Sein rechtes Bein war 18-mal gebrochen. Bis heute muss er fünfmal wöchentlich zur Reha, dreimal täglich Schmerzmittel nehmen. Die nächste OP steht im Herbst an. Er sagt: „Ich kann heute mit meinen Wunden leben. Aber kann das der Täter mit seinem schlechten Gewissen?“

Ähnlich äußert sich ein Polizeisprecher. „Die Behandlungen dauern bis heute an. Zudem ist von bleibenden Schäden und Berufsunfähigkeit infolge des Tatgeschehens auszugehen“, sagte er dem Blatt. „Der Fahrer hatte das Opfer mit lebensgefährlichen Verletzungen seinem Schicksal überlassen.“ Der Unfallort sei eine wenig befahrene Straße. Deshalb werde wegen versuchten Mordes ermittelt.

„Die Behandlungen dauern bis heute an. Zudem ist von bleibenden Schäden und Berufsunfähigkeit infolge des Tatgeschehens auszugehen“, sagt der Polizeisprecher.

Der Unfallort ist eine wenig befahrene Straße. „Der Fahrer hatte das Opfer mit lebensgefährlichen Verletzungen seinem Schicksal überlassen“, sagt der Polizeisprecher.

Deshalb wird wegen versuchten Mordes ermittelt.

Den Informationen von „Bild“ zufolge sei es Kriminaltechnikern erst mehrere Monate nach dem dramatischen Unfall geglückt, das Fahrzeugmodell zu bestimmen. Laut einem Beamten sei ein Fahrzeug in den Fokus der Ermittlungen geraten, das zwei Tage nach der Tat in Sachsen als gestohlen gemeldet worden war. „Der Wagen wurde wenig später in Polen mit Unfallspuren sichergestellt und steht im Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchungen als unfallverursachendes Fahrzeug zweifelsfrei fest“, erklärte ein Polizeisprecher.

Monate nach dem Horror-Crash gelang es den Kriminaltechnikern, das Fahrzeugmodell zu bestimmen.

Der Beamte: „Es geriet ein Fahrzeug in den Fokus der Ermittlungen, was zwei Tage nach der Tat in Sachsen als gestohlen gemeldet worden war.“

„Der Wagen wurde wenig später in Polen mit Unfallspuren sichergestellt und steht im Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchungen als unfallverursachendes Fahrzeug zweifelsfrei fest“, sagt der Polizeisprecher.

Der Mercedes konnte schließlich einer deutschen Fersehmoderatorin zugeordnet werden. Mittlerweile geht die Staatsanwaltschaft nach Informationen der „Bild“-Zeitung davon aus, dass der angezeigte Diebstahl als „ein Versuch des Vertuschens der Unfallbeteiligung“ zu werten ist. Deshalb werde gegen […] nun wegen versuchten Mordes ermittelt. Auch ihr 41 Jahre alter Verlobter geriet angeblich ins Visier der Polizisten. Er soll dem Ex-„Big-Brother“-Star geholfen haben, das Unfallauto nach der Tat aus dem Land nach Polen zu schmuggeln. Gegen ihn werde wegen Betruges zum Nachteil einer Versicherung und Vortäuschen einer Straftat ermittelt.

Es ist der Mercedes der TV-Moderatorin […]!

Die Staatsanwaltschaft geht mittlerweile davon aus, dass der angezeigte Diebstahl als „ein Versuch des Vertuschens der Unfallbeteiligung“ zu werten ist.

Deshalb wird gegen […] jetzt wegen versuchten Mordes – und gegen ihren Verlobten (41) wegen Betruges zum Nachteil einer Versicherung und Vortäuschen einer Straftat ermittelt.

Ihr Verlobter soll […] geholfen haben, dass Unfallauto nach der Tat nach Polen zu bringen.

Die TV-Moderatorin dementiert den Verdacht. Sie äußerte sich gegenüber „Bild“: „Wir waren das nicht. Wir haben damit nichts zu tun. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gearbeitet.“ Ein Ermittler aber glaubt die Wahrheit zu kennen: „In den Vernehmungen zeigt sie sich eiskalt und ohne Anflug von Reue“, zitiert ihn „Bild“.

Die TV-Moderatorin am Dienstag zu BILD: „Wir waren das nicht. Wir haben damit nichts zu tun. Ich habe zu diesem Zeitpunkt gearbeitet.“

Ein Ermittler zu BILD: „In den Vernehmungen zeigt sie sich eiskalt und ohne Anflug von Reue.“

Das entspricht einer quasi-vollständigen Übernahme der Informationen aus den beiden „Bild“-Artikeln. Jedes Zitat eines der Beteiligten wurde verwertet. Wer auf einen der Links zu „Bild“ klickte, erführe dort nichts Wesentliches, was nicht schon bei „Focus Online“ steht.

(Lustigerweise haben die „Focus Online“-Leute beim Kopieren an einer Stelle sogar den Namen der Beschuldigten übernommen, den sie sonst aus ihrem Text getilgt hatten. Man unterschätzt sie leicht, die Tücken des Copy & Paste.)

„Focus Online“ kopiert alles. Nicht nur aus „Bild“-Artikeln, aber natürlich ist „Bild“ eine besondere Fundgrube für ein solches konsequent auf Reichweitenmaximierung angelegtes Online-Angebot.

Wenn Uli Hoeneß vor seinem Haftantritt noch einmal kurz einen „Bild“-Mann zurückruft und ihm ein paar Sätze sagt, steht all das hinterher nicht nur (kostenpflichtig) auf „Bild plus“, sondern auch (frei) auf „Focus Online“, mit ausführlichsten Original-Zitaten, gekürzt nur um das unwesentlichste Drumherum und ein paar eitle Belanglosigkeiten. Wenn ein angeblicher „WhatsApp“-„Insider“ mit „Bild“ über die Probleme und Pläne bei dem Nachrichtendienst spricht, pickt sich „Focus Online“ daraus nicht die vermeintliche Nachricht oder ein, zwei knackige Zitate, sondern erzählt den kompletten Artikeln, fast ohne Auslassung, nach.

Das wird nicht besser dadurch, dass „Focus Online“ immer und immer wieder die Quelle nennt und geradezu übertrieben oft darauf verlinkt — es gibt ja tatsächlich keinen Grund, auf den Link zu klicken.

Das alles ist, ohne Frage, extrem dreist.

Es scheint aber, erstaunlicherweise, nicht rechtswidrig zu sein. Zumindest räumt Julian Reichelt das ein, was ihn nicht daran hindert, „Focus Online“ zu bezichtigen, Straftaten zu begehen. In der Logik eines „Bild“-Menschen geht das problemlos: Jemanden, der etwas tut, was nicht strafbar ist, einer Straftat bezichtigen und auf Nachfrage auch darauf beharren.

Dass das umfangreiche, fast vollständige Kopieren von Inhalten, wie es „Focus Online“ betreibt, laut „Bild“ rechtlich nicht angreifbar ist, ist aber auch deshalb erstaunlich, weil man jahrelang so getan hatte, als ob es gegen genau das doch ein Mittel gebe: Ein Leistungsschutzrecht.

Nun ist dieses Leistungsschutzrecht da — und es hilft doch nicht gegen „Diebe“ und „Hehler“? Sollte es etwa so sein, dass es bei dem Leistungsschutzrecht gar nicht um den Schutz vor solchen Leuten ging, die sich systematisch an eigenen, womöglich teuer erstellten Inhalten bedienen und darauf ein eigenes Geschäftsmodell aufbauen? Sondern dass das nur ein Vorwand war, um ein Gesetz zu bekommen, mit dem sich (womöglich, bestenfalls, wie auch immer) ein Teil der Einnahmen von Google abzwacken lässt?

Okay, das ist gar keine überraschende Erkenntnis. Aber schön, dass das gerade in dieser Anschaulichkeit der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Und das auch noch am Beispiel von „Focus Online“, einem Unternehmen aus dem Hause Hubert Burda, dem Präsidenten des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger, der an vorderster Front für das Leistungsschutzrecht gekämpft hat und dabei Sätze formulierte, die vor dem Hintergrund des „Focus Online“-Geschäftsmodells nachträglich ganz besonders schön schimmern:

[…] wer die Leistung anderer kommerziell nutzt, muss dafür bezahlen. Dieses ökonomische Grundprinzip muss auch im digitalen Zeitalter mit seiner „Link-Ökonomie“ gelten. Sonst sehen wir der schleichenden Enteignung der Inhalte-Produzenten tatenlos zu.

Der Zorn der „Bild“-Leute über die Ausbeutung ihrer Inhalte ist nachvollziehbar. Sie sind besonders wütend, weil sie so machtlos sind und weil der Gegner einer der ihren ist (die Möglichkeit, dass Verlage die Ausbeuter sind und nicht die Ausgebeuteten, war in der ganzen Leistungsschutzrecht-Debatte irgendwie gar nicht vorgesehen). Und besonders auf die Palme muss sie treiben, dass der Gegner so gut ist.

Im Interview mit turi2 beklagt Bild.de-Chef Reichelt ausdrücklich, dass „Focus Online“ die ausgeschlachteten „Bild“-Inhalte „durch die berüchtigte Focus.de-Google-Optimierung laufen“ lässt. „Berüchtigt“ ist diese Optimierung aus Bild.de-Sicht natürlich nur, weil sie so gut funktioniert. Als ob Bild.de nicht selbst gerne seine Inhalte, zumindest die freien, so optimiert hätte wie „Focus Online“. Reichelt und seine Kollegen nehmen dem „Focus“ nicht nur übel, dass er ihnen etwas wegnimmt, sondern dass er auch noch das meiste daraus macht.

Im Gegensatz dazu hat „Bild“ mit seiner selbstgewählten Paid-Content-Strategie dafür gesorgt, dass seine Inhalte für den flüchtigen Suchmaschinenbenutzer unsichtbar sind. Reichelt sagt im Turi2-Interview: „Paid-Inhalte werden von Google nicht angezeigt.“ Tatsächlich stimmt das — auf „Bild plus“-Inhalte bezogen. Paid-Inhalte zum Beispiel vom „Hamburger Abendblatt“ werden durchaus von Google angezeigt, und zwar sowohl in der Web- als auch in der News-Suche. Letzteres liegt daran, dass das „Abendblatt“ der „Erster Klick gratis“-Vorgabe folgt und Besuchern, die auf diesem Weg kommen, einen Blick hinter die Bezahlschranke gestattet. Aber selbst die britische „Times“, die das nicht tut, wird mit ihren Paid-Inhalten bei Google und Google News gelistet.

Vielleicht kann Herr Reichelt mal erklären, warum „Bild“ das mit seinen „Plus“-Inhalten nicht gelingt — und so zur Profitmaximierung der angeblichen „Hehler“ noch beiträgt.

Vermutlich sind sie bei „Bild“ aber ohnehin noch mit dem Auswechseln all der Sicherungen beschäftigt, die ihnen in den vergangenen Wochen im Streit mit „Focus Online“ durchgebrannt sind. Neulich haben sie sich sogar ganz besonders darüber aufgeregt, dass der, äh, Mitbewerber es wagte, eine „Bild“-Exklusiv-Nachricht nicht nur selbst zu melden, sondern sogar als „Eilmeldung“ an seine App-Nutzer zu verschicken. Anscheinend gilt: Über Dinge, die „Bild“ rauskriegt, darf nur „Bild“ seine Leser mit der gebotenen übertriebenen Dringlichkeit informieren.

Zwischenstand im Presse-Limbo zum Leistungschutzrecht

Das Wettrennen um die verlogenste, einseitigste, falscheste und irrste Berichterstattung in der deutschen Presse über das Leistungsschutzrecht ist noch im vollen Gang. Insofern wäre es voreilig, heute schon einen Gewinner küren zu wollen, selbst wenn man sich kaum vorstellen kann, dass die bisherigen Teilnehmer noch zu übertreffen sind.

Bis vorhin zum Beispiel dachte ich, dass der „Mannheimer Morgen“ unmöglich einzuholen sein würde. Der hat einen Kommentar von Rudi Wais veröffentlicht, der auch in „Augsburger Allgemeiner“, „Main Post“, „Straubinger Tagblatt“ und „Landshuter Zeitung“ erschienen ist und mit den Worten beginnt:

Diesen Kommentar gibt es nicht umsonst.

Das ist ein Satz, der auf den ersten Blick nicht sehr spektakulär wirkt, es sei denn, man liest den Kommentar auf den Internetseiten von „Mannheimer Morgen“, „Augsburger Allgemeine“ oder „Main Post“. Dort gibt es ihn umsonst.

Diesen Kommentar gibt es nicht umsonst. Unsere Leser bezahlen am Kiosk oder im Abonnement für ihre Zeitung — und unser Verlag bezahlt den Autor, der diesen Kommentar schreibt, das Papier, auf dem der nachts gedruckt wird, die Druckmaschinen und natürlich auch Fahrer und Zusteller, die die Zeitungen dann in aller Frühe ausliefern. Im Idealfall haben am Ende alle fünf etwas von diesem Kommentar: Leser, Verlag, Journalist, Fahrer und Zusteller. Sie leben mit der Zeitung oder von ihr. Nur Google will nicht bezahlen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich verlieren diese Sätze ein bisschen ihre Überzeugungskraft dadurch, dass sie alle auf dem ersten Satz aufbauen, der so eindeutig falsch ist.

Wie übrigens auch der nächste:

Der amerikanische Internetriese sammelt Texte ohne Rücksicht auf Urheber- und Verlagsrechte in speziellen Nachrichtenportalen.

Nein. Was Google macht — Texte indizieren und mir kurzen Ausrissen verlinken — verstößt nicht gegen das Urheberrecht. Und wenn die Verlage es trotzdem nicht zulassen wollen, könnten sie es einfach verhindern, sogar ohne darauf verzichten zu müssen, über Google trotzdem gefunden zu werden. Die falsche Behauptung ist Teil der gezielten Desinformation der Leser durch die Verlage, was insofern ironisch ist, weil der Kommentator ein paar Sätze weiter schreibt, dass „unkundige Besucher“ von Google „gezielt desinformiert“ würden.

Der Kommentar endet mit den Worten:

Guter Journalismus kostet Geld — und deshalb darf ihn auch Google nicht umsonst bekommen.

Bevor Sie jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen, falls Sie auf den Link geklickt und den Text umsonst gelesen haben: Keine Sorge. Es handelt sich ja nachweislich bei ihm nicht um „Guten Journalismus“.

Dieser Kommentar also, dachte ich, wäre schwer zu unterbieten. Andererseits hat sich die „Sächsische Zeitung“ wirklich alle Mühe gegeben. Die schreibt heute:

Nun ruft uns Google auf, für die Freiheit im Netz zu kämpfen. Auf wessen Kosten der Konzern das tut, ist doch egal, solange er es für unsere Freiheit tut. Dafür darf er auch beliebig viel Wissen über uns sammeln und an ihm beliebige Stellen weiterreichen. Oder beliebig geklaute Inhalte zum eigenen Nutzen verwerten. Ja, Google ist toll und für die Freiheit. Wie gaga — oder eben google — muss man eigentlich sein, um an ein solches Märchen zu glauben?

Als Laie würde ich sagen, dass das justiziabel sein dürfte. Nein, nicht das lustige Wortspiel am Ende, sondern die Unterstellung, dass Google Straftaten begeht und mit „beliebig geklauten Inhalten“ handelt. Aber mal angenommen, der Suchmaschinenkonzern würde dagegen vor Gericht ziehen, dann wär aber was los! Es wäre, jede Wette, für die deutschen Print-Medien und ihre Lobbyisten und Verbündeten ein Angriff auf die Pressefreiheit und der letzte fehlende Beweis, dass Google schlimmer ist als Hitlerkrebs.

Im übrigen ist die „Sächsische Zeitung“ in bester Gesellschaft: Auch der Zeitungsverlegerverband BDZV hat Google neulich mit einem Ladendieb verglichen.

Aber reicht das, um das publizistische Wettrennen in den Kategorien Unverfrorenheit und Wahnwitz zu gewinnen? Oder hat Stephan Richter, Sprecher der Chefredakteure des Schleswigholsteinischen-Zeitungsverlages, bessere Chancen? Er kommentiert unter dem Titel „Freiheit des Ausschlachtens“ und stellt gleich im zweiten Satz fest, dass „jeder halbwegs vernünftige Mensch“ für ein Leistungsschutzrecht sein müsse (das nicht zuletzt von führenden Urheberrechtsexperten, wir erinnern uns, abgelehnt wird).

Richter punktet vor allem damit, dass er es auf kürzestem Raum schafft, jedes einzelne Feld auf der netzpolitischen Bullshit-Bingo-Karte anzukreuzen:

Der parlamentarische Gang des Leistungsschutzrechtes wäre schnell beendet, lebte das Internet nicht von einer Scheinfassade, die die Netzjünger im Schlepptau der Suchmaschine Google glauben retten zu müssen. Die wichtigste Lüge: Im Internet herrscht Freiheit, die durch das Gesetz bedroht wird. Doch wo — bitteschön — ist die Freiheit im Netz? Allein der illegale Datenklau, mit dem täglich Geschäfte gemacht werden, verletzt Persönlichkeitsrechte und ist Bespitzelung. Hinzu kommt die Manipulation — auch bei den Suchmaschinen. Keiner kennt die Algorithmen, nach denen die Treffer bei Google angezeigt werden. Und schließlich ist da noch die Kostenlos-Mentalität, die es Internetanbietern erlaubt, mit dem puren Ausschlachten von Inhalten anderer Geld zu verdienen. Modernes Raubrittertum nennt man dies.

Zu würdigen ist auch die zugehörige Karikatur, die sich, um es positiv zu formulieren, um eine innovative Umsetzung des Themas bemüht und deshalb zeigt, wie Google einen Internetbenutzer dazu zwingt, die harte Nuss Leistungsschutzrecht zu knacken. Man kann es schlecht erklären, vielleicht schauen Sie einfach selbst.

Weitere Kandidaten-Vorschläge werden gern entgegengenommen.

dapd-Chef appelliert an Redaktion: Bewahren Sie Ruhe!

Am Sonntagnachmittag habe ich hier im Blog ein dapd-Feature über Baku kritisiert. Das veranlasste den Chefredakteur Cord Dreyer, am nächsten Tag folgende Rundmail an alle Redakteure zu verschicken:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

offensichtlich ärgern sich viele von Ihnen über die Kritik in einem Medienblog an einem unserer Texte aus Aserbaidschan. Bitte lassen Sie sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen oder gar verunsichern. Es ist in der Tat so, dass die Arbeit von Unternehmen, die auf Erfolgskurs sind, in der Branche mitunter besonders kritisch beäugt wird.

Fakt ist:

  • Kein anderes Medium ist im Vorfeld des ESC für seine Kunden so lange vor Ort und berichtet so ausgiebig und ausgewogen über Aserbaidschan wie dapd. Teil unserer Berichterstattung sind selbstverständlich viele Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Aktivitäten der Opposition und regierungskritischer Organisationen.
  • Zu einer solch ausgewogenen und insgesamt kritischen Berichterstattung gehört als eine Stilform auch ein Städteporträt mit subjektiven Eindrücken. Nicht jeder Text über Aserbaidschan kann drei Hintergrundabsätze über die Menschenrechtsverletzungen in dem Land enthalten, die es ohne Zweifel gibt. Im Internet finden Sie ein Beispiel dafür, wie dpa in einem ähnlichen Feature kaum anders mit dem Thema umgegangen ist.
  • Als Nachrichtenagentur sind wir selbstverständlich unabhängig und berichten auch unabhängig. Wir lassen uns die Form und den Tenor unserer Berichterstattung nicht vorschreiben.
  • Von dieser Unabhängigkeit können Sie sich leicht überzeugen, wenn Sie all die Beiträge über Aserbaidschan in unserem Dienst lesen.

Ich möchte Sie ermutigen, Ihre gute Arbeit fortzusetzen und sich durch solcherlei Angriffe nicht beeindrucken zu lassen. Wer Erfolg hat, steht auch immer in der Kritik. Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir sollten mit dieser Kritik aber selbstbewusst umgehen.

Herzliche Grüße
Ihr
Cord Dreyer

Entweder ist ein dapd-Redakteur also ein so sensibles Geschöpf, das schon auf öffentliche Kritik an der Arbeit eines Kollegen mit Selbstzweifeln, Panik und Alleshinwerfgedanken reagiert, dass der Chef gleich eine Durchhalte-, Kopfhoch- und Wir-lassen-uns-nicht-unterkriegen-Notfall-Mail verfassen muss.

Oder die Angst und der Ärger liegen doch eher auf Seiten des Chefredakteurs.

Sein Vorschlag, sich von der „Unabhängigkeit“ der dapd-Berichterstattung über Aserbaidschan durch einen Blick ins Archiv zu überzeugen, ist allerdings ein überraschend guter. Der Unternehmenssprecher von dapd hatte mir am Dienstag dieselbe Anregung gegeben und freundlicherweise gleich ein umfangreiches PDF mit entsprechenden Agenturmeldungen geschickt, die belegen sollen, dass dapd die notwendige kritische Distanz hält.

Mein Eindruck nach dem Lesen war ein ganz anderer.

Eine Meldung des dapd-Korrespondenten in Baku über eine regierungskritische Demonstration am vergangenen Sonntag endete mit folgenden Sätzen:

[Präsident] Alijews Sprecher Ali Hasanow sagte der dapd vergangene Woche, er sehe Demonstrationen von Regierungsgegnern als Beweis für „eine funktionierende Zivilgesellschaft“. Er wies den Vorwurf zurück, es gebe „politische Gefangene“. „Die sitzen wegen konkreten Straftaten wie beispielsweise Hooliganismus im Gefängnis“, sagte Hasanow. Jedem stehe der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte frei.

Das ist blanker Hohn. Nach Angaben der Bundesregierung hat Aserbaidschan aktuell 46 Urteile des Gerichtshofs wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonventionen nicht umgesetzt.

Am selben Tag lieferte der Baku-Korrespondent von dapd auch ein längeres „Hintergrund“-Stück zum Thema. Anders als dessen Titel „Vor dem ESC in Aserbaidschan formiert sich die Opposition“ suggeriert, kommt in dem Bericht kein Oppositionspolitiker zu Wort. Stattdessen erhält wieder die Regierung das Wort:

(…) Erstmals seit rund zehn Jahren finden in der Hauptstadt Baku regelmäßig Demonstrationen statt. (…) „Es gibt also eine funktionierende Zivilgesellschaft“, kommentierte Ali Hasanow, der Sprecher von Staatspräsident Ilham Alijew, zuletzt im Gespräch mit dapd. (…)

„Das Internet ist völlig frei“, betont auch Hasanow, dem die kritische internationale Berichterstattung über sein Land zu undifferenziert erscheint. So sei etwa immer wieder zu lesen, dass regimekritische Demonstrationen in der Vergangenheit nicht genehmigt worden seien. „Es ging nicht darum, ob demonstriert werden darf, sondern darum, wo“, sagt Hasanow. Die Opposition habe darauf bestanden, im Zentrum von Baku auf die Straße zu gehen. Wegen des dichten Verkehrs und den Baudenkmälern habe die Stadtverwaltung Sicherheitsbedenken angemeldet und Versammlungsplätze auf Brachflächen in Vororten vorgeschlagen. „Erst jetzt wird das von Jugendorganisationen und Oppositionsparteien akzeptiert“, sagt Hasanow: „Es ist gut, dass sie nun dort demonstrieren.“ (…)

Laut Meinungsumfragen kommt Präsident Alijew unter den knapp fünf Millionen Wahlberechtigten weiterhin auf traumhafte Zustimmungsquoten von über 70 Prozent.

Das mag zum Beispiel Ausdruck dessen sein, was die Friedrich-Ebert-Stiftung die „paternalistische Auffassung von Staatsgewalt“ bei einer Mehrheit der Aseris nennt, „wonach die Regierung für die Gesellschaft sorgt wie Eltern für ihre Kinder“. Aber in einem Land, in dem der Opposition nur wenig Raum in der Öffentlichkeit und den Medien eingeräumt wird, was natürlich einen Meinungsbildungprozess behindert, wäre es für eine seriöse Nachrichtenagentur vielleicht eine gute Idee, die angebliche Zustimmungsquote nicht unqualifiziert mit dem Wort „traumhaft“ zu bejubeln.

Am Tag zuvor war es der aserbaidschanische Energie- und Industrieminister Natig Alijew, den dapd ausführlich zu Wort kommen ließ: „Im Gespräch mit Jakob Lemke beantwortete Alijew auch Fragen zu internationaler Kritik an Aserbaidschan (…).“

dapd: Ein anderes Thema, bei dem Aserbaidschan internationale Kritik einstecken muss, sind Zwangsräumungen durch die staatseigene Öl- und Gasfirma Socar. Zuletzt wurden dabei sogar Journalisten verletzt, der Presserat protestierte. Was sagen Sie zu solchen Vorfällen?

Alijew: Ich denke, wenn Socar Maßnahmen ergriffen hat, ist dies durch das Rechtssystem geregelt. Das Gesetz steht höher als Personen oder Firmen. Nach meinen Informationen hat Socar Gerichtsurteile erwirkt, weil diese Häuser ohne Genehmigung errichtet wurden. Socar hat die Grundstücke für Öl- und Gasprojekte bekommen — das sind keine Grundstücke für Häuser. Wenn also die Häuser illegal errichtet wurden, dann liegt Socar richtig. Aber ich wiederhole: Das Gesetz steht über den Firmen.

Und zum Weltfrauentag am 8. März schenkte dapd Aserbaidschan ein „Feature“, das zwar auch die Kritik von Nichtregierungsorganisationen an Benachteiligungen von Frauen thematisierte („Licht und Schatten prägen die Rolle der Frau in Aserbaidschan“), aber Raum fand, dem Präsidentenpaar ein paar Blumenkränze zu flechten:

Nach amtlichen Statistiken sind rund 45 Prozent der Angestellten im Land weiblich. Vorbild ist die „First Lady“ Mehriban Alijewa, die ihren Mann bei der Modernisierung des Landes durch intensive Stiftungsarbeit und viele öffentliche Auftritte unterstützt. Auch ihre eigene Website betreibt Alijewa, die Medizin und Philosophie studiert hat.

Wie gesagt: All diese zitierten Meldungen sind ausschließlich solche, die mir dapd eigens herausgesucht hat, um die journalistische Distanz der Berichterstattung aus Baku zur Regierung zu belegen. Wer sie liest, erfährt tatsächlich gelegentlich etwas über die Kritik an dem Regime. Vor allem aber wird er ausführlich und weitgehend ungefiltert mit dessen Propaganda versorgt.

Es sind Meldungen, die dazu passen, dass ihr Autor für die teetrinkenden Polizisten in Baku schwärmt und Sätze schreibt wie: „Angst vor Uniformierten ist in Aserbaidschan nicht notwendig.“

Das muss es sein, was dapd-Chefredakteur mit der „insgesamt kritischen“ Berichterstattung seiner Agentur über Aserbaidschan meint.

Aber bitte, Herr Dreyer, lassen Sie sich von diesem Eintrag nicht beeindrucken, aus der Ruhe bringen oder gar verunsichern.

Malen nach Zahlen

Man kann natürlich fragen, welches Interesse die „Bild“-Zeitung und ihr Chefkorrespondent Einar Koch daran haben, das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt in diesem Land kleinzureden. Ich vermute, es ist ein alter, aus ideologischeren Zeiten übrig gebliebener, rechter Reflex, der in doppelter Hinsicht gegen die Linke zielt: Man versucht ihren Generalverdacht, dass Deutschland immer noch und wieder voller Nazis sei, zu widerlegen. Und man behauptet, dass die Gewalt von links ohnehin das viel drängendere Problem ist. (Die mutmaßlich linken Brandstifter, die in Hamburg und Berlin seit Monaten Autos anzünden, nennt „Bild“ nicht zufällig „Terroristen“.)

Aber der Grund, warum ich mich über die Falschmeldung über den Rückgang rechter Gewalt besonders geärgert habe, hat weniger mit „Bild“ zu tun. Sondern mit allen anderen. In dieser Geschichte steckt fast das ganze Elend des Journalismus von heute.

· · ·

Die „Bild“-Zeitung möchte also gerne wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte aber nicht abwarten, bis im Frühjahr die offiziellen Zahlen bekannt gegeben werden. Sie möchte nicht einmal abwarten, bis in einem Monat die vorläufigen Zahlen für das ganze Jahr vorliegen. Mit anderen Worten: Sie möchte gar nicht wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte nur irgendwas als erster melden, was vielleicht stimmt und vielleicht nicht. Ich fürchte, damit ist sie nicht allein.

· · ·

Glaubt überhaupt irgendjemand, dass sich die Gefahr des Rechtsextremismus durch solche Statistiken messen lässt? Dass man zum Beispiel aufatmen könnte, wenn die Zahl der Gewalttaten tatsächlich um 8,5 Prozent zurückgegangen wäre? Wenn überhaupt, bräuchte man doch einen Kontext: Warum ist die Zahl zurückgegangen? Haben irgendwelche sozialen Angebote geholfen? Gab es massive Razzien? Haben die Neonazis ihr Vorgehen vom brutalen Einschüchtern aufs unauffällige Unterwandern verlagert? Oder was?

Der Zahlenfetisch der Massenmedien hat bizarre Ausmaße angenommen. Irgendwelche Prozentwerte, Statistiken und Hitparaden sagen zwar oft nichts aus, tun aber immer so, als ob. Sie wirken wie Fakten, lassen sich knackig auch in kürzesten Meldungen formulieren und ersetzen die ungleich mühsamere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Form von Anschauung und Reflexion. Was will eigentlich Karl-Theodor zu Guttenberg, wofür steht er, welche Widersprüche tun sich auf? Egal, aber er ist in der Liste der beliebtesten Politiker von Platz 2 auf Platz 1 geklettert! Kein Mensch beschäftigt sich inhaltlich mit den Urteilen des Presserates, aber wenn bekannt wird, dass die Zahl der Beschwerden um 70 Prozent zugenommen hat, seit man sie einfach online einwerfen kann, schreiben das alle. Wie gut sind eigentlich die Kommentare in den „Tagesthemen“? Keine Ahnung, wer guckt das schon, aber der WDR liegt in der Kommentarhitparade an erster Stelle, und Siegmund Gottlieb BR hat zweimal häufiger kommentiert als Holger Ohmstedt vom NDR.

Und nur so kommt auch das Thema Rechtsradikalismus verlässlich in die Nachrichten: als Hitparade (die Neonazis sind zum zehnten Mal dabei, bitte nicht wiederwählen).

Wenn Journalisten Zahlen sehen, setzt bei ihnen der Verstand aus. Eine Kosmetikfirma, die sich auf natürlich-dezente Alternativen zum Make-up spezialisert hat, veröffentlicht eine angebliche „Studie“, wonach den meisten Männern dick aufgetragenes Make-Up bei ihren Partnerinnen (!) nicht gefällt. Die offenkundige PR-Geschichte geht in all ihrer Belanglosigkeit um die Welt und erscheint natürlich auch auf „Spiegel Online“ samt zehnteiliger Bildstrecke — unter der bizarr-abwegigen Überschrift „Die Lockstoff-Falle: Wenn Stars zu viel auflegen“. Und weil Autorin und Ressortleiterin Patricia Dreyer offenbar meint, dass andere Leute genau so auf den Statistik-Quatsch reinfallen müssten wie sie selbst, formuliert sie, dass die Umfrage „Katie Price und Kolleginnen zum Nachdenken anregen dürfte“. Genau. Katie Price, das Fotomodell und Gesamtkunstwerk, wird sich jetzt fragen, was sie falsch gemacht hat, all die Jahre, mit der ganzen Schminke und dem ganzen Erfolg.

Mein Lieblingsbeispiel ist natürlich von den Kollegen vom Braanchendienst „Meedia“, die es schafften, in einer Meldung über getötete Journalisten in der Welt gleich zwei Hitparaden unterzubringen: Die Länder- und die Jahres-Hitparade:

Von den weltweit 88 getöteten Journalisten starben allein bei dem Massaker auf den Philippinen Ende November 35. Durch dieses eine Ereignis steigt die südostasiatische Region zum gefährlichsten Land für die Berufsgruppe auf. Auf den weiteren Plätzen: Acht Journalisten wurden in Pakistan getötet, sieben in Mexiko und sechs in Somalia. In Russland verloren fünf Journalisten ihr Leben. Weitere europäische Länder sind in dem Bericht nicht aufgelistet.

Bereits jetzt liegt 2009 im Jahresvergleich an dritter Stelle seit Beginn der WAN-Berichte im Jahr 1998: nur 2007 mit 95 und 2006 mit 110 getöteten Medienvertretern waren noch blutiger.

Ist das nicht toll? Wenn es in diesem Jahr kein einzelnes vergleichbares blutiges Massaker auf den Philippinen gibt, wird „Meedia“ es als „Aufsteiger“ des Jahres in Sachen Journalistensicherheit feiern können. (Die Meldung ist übrigens vom 1. Dezember. Natürlich wollte keiner das Ende des Jahres abwarten.)

Aber zurück zu den rechten Gewalttaten und „Bild“: Das Blatt behauptete gestern auch, die Zahl „rechter Straftaten insgesamt (z. B. Volksverhetzung)“ sei „um 0,35 %“ gestiegen. Diese (vermutlich falsche) Aussage fanden die Agenturen AFP, AP, dpa so interessant, dass sie sie begierig in die Welt trugen. Schreiben wir einmal aus, was der Wert tatsächlich bedeutet: Derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2009, der bereits in einer vorläufigen Zählung erfasst wurde, liegt um ein winziges Fitzelchen höher, als derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2008, die damals schon erfasst wurden, sich im Nachhinein als viel zu niedrig herausgestellt hatte, wovon auch in diesem Jahr wieder auszugehen ist. Das ist eine Nachricht? Wirklich? Warum?

· · ·

Und dann ist da der Fluch der Vorabmeldung. Vermutlich gibt es bei Nachrichtenagenturen interne Regeln, wie eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen ist, bevor man sie veröffentlicht. (Ich weiß, der Anschein spricht nicht dafür, aber es soll solche Regeln tatsächlich geben.) Jede Pflicht zur Überprüfung einer Information erlischt aber offenbar dann, wenn sie per Fax oder E-Mail am späten Abend eintrifft und von irgendeinem Medium kommt, das ankündigt, darüber am nächsten Tag zu berichten.

Ohne jede Kontrolle beeilten sich dpa, APD, Reuters, AFP, die Behauptung von „Bild“, die Zahl rechter Gewalttaten sei zurückgegangen, möglichst schnell und möglichst weiträuming in die Welt zu pusten. So wichtig wie es für „Bild“ war, die vermeintlichen Zahlen über das Jahr 2009 noch vor dem Vorliegen auch nur vorläufiger Zahlen für 2009 in zu veröffentlichen (egal ob sie stimmen oder nicht), so wichtig war es für die Nachrichtenagenturen, diese Informationen noch vor Tagesanbruch weiterzutragen. AP schaffte es 0.15 Uhr als erstes, AFP zog um 1.56 Uhr nach, dpa brauchte bis 2.31 Uhr und die Nachtschicht von Reuters konnte um 4.28 Uhr Vollzug melden.

Keine dieser Agenturen fand die Quelle „Bild“ zu halbseiden, keine erinnerte sich, dass der Autor der „Bild“-Meldung einschlägig bekannt ist und vor knapp vier Jahren schon einmal zum selben Thema eine Falschmeldung produziert hatte. Keine der Agenturen stutzte, dass die Behauptungen von „Bild“, die auf Zahlen des BKA beruhen sollen, den von ihnen allen damals vermeldeten Äußerungen von BKA-Chef Jörg Ziercke widersprachen, der vor drei Wochen erst gesagt hatte, er rechne für 2009 mit ähnlich vielen rechten Straf- und Gewalttaten wie im Vorjahr, und auch angesichts der besonderen Brutalität rechter Schläger davor warnte, an Aussteigerprogrammen zu sparen.

Wenn die Nachtschicht sich nur auch nur zwei Minuten genommen hätte, ins eigene Archiv zu gucken, hätten sie vielleicht auch entdeckt, dass die aktuelle Behauptung von „Bild“, linksradikale Gewalt habe in den ersten drei Quartalen um 49,4 Prozent zugenommen (nein, nicht um die Hälfte, um 49,4 Prozent!) keine Neuigkeit war. Die Zeitung hatte das schon am 16. Dezember behauptet. Das Bundesinnenministerium und das BKA hatten damals davor gewarnt, diesen Zahlen zu glauben, weil sie noch vorläufig und nicht verlässlich seien. Aber die Agenturen hatten sie natürlich trotzdem übernommen.

Das war schlimm genug. Aber nicht zu merken, dass diese Zahlen, die „Bild“ noch einmal veröffentlicht hat, weil sie so einen schönen Kontrast darstellen zur angeblich zurückgehenden Zahl rechter Gewaltdelikte, und sie als Neuigkeit zu behandeln, wie es dpa, AFP und APD getan haben, ist schlicht bekloppt. AFP packte die Scheinnachricht sogar in die Überschrift: „Zeitung: Weniger rechtsextreme Gewalttaten in Deutschland – Laut BKA aber Zunahme bei Linksextremisten“ (wohlgemerkt: jenes BKA, das sich schon von der ersten Veröffentlichung im Dezember distanziert hatte).

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Nächster Akt: Bei dpa bekommt jemand plötzlich einen Rechercheflash. Am Vormittag fragt er beim BKA nach den Zahlen, die „Bild“ unter Berufung auf das BKA nennt, und bekommt zur Antwort: Von uns ist das nicht. Nun könnte man denken, dass das ein guter Grund wäre, die halbgaren Daten aus einer Quelle von der bekannten Seriösität der „Bild“-Zeitung nicht zu verwenden. Falsch. Für dpa ist es ein Grund, die Daten noch einmal zu vermelden — nur halt mit dem Zusatz, dass das BKA sie nicht bestätigen möchte.

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An dieser Stelle muss man noch einmal darauf hinweisen, was passiert, wenn Nachrichtenagenturen Meldungen aus dubiosen Quellen wie „Bild“ übernehmen: Sie machen aus ihnen Meldungen aus seriöser Quelle. Der Presserat, das Selbstkontrollsimulationsgremium, hat erklärt, dass Journalisten sich blind auf die Meldungen von Nachrichtenagenturen verlassen dürfen. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie das nicht mehr nachrecherchieren. Ist das nicht toll? Unsere Nachrichtenagenturen melden Dinge, die sie nicht nachprüfen, und andere dürfen sie dann unbesehen übernehmen, weil sie von Nachrichtenagenturen gemeldet werden.

Das passiert im Online-Journalismus natürlich inzwischen sogar weitgehend automatisch, weshalb die Quatschmeldung vom Rückgang der rechten Straftaten innerhalb kürzester Zeit von den Internet-Ablegern vermeintlich renommierter Medien wie der „Süddeutschen Zeitung“, dem „Stern“ und der „Deutschen Welle“ weiterverbreitet wurde.

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Als nächstes habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe einem Kollegen bei dpa geschrieben, dass ich angesichts von deren Berichterstattung eine fiese Migräne bekommen habe (sinngemäß), was leider einen anderen dpa-Mann veranlasste, der Sache mit „Bild“ und dem BKA und den Zahlen noch einmal nachzugehen. Vom Bundesinnenministerium erfuhr die Agentur, dass die Zahlen nicht seriös seien, was sie in einer weiteren Meldung brav aufschrieb, bevor sie die unseriösen Zahlen zum inzwischen dritten Mal vermeldete. Vor allem aber hatte sie den Schwerpunkt ihrer, nun ja: Recherche fatalerweise auf nicht die fehlende Aussagekraft der „Bild“-Zahlen gelegt, sondern die Frage, woher die „Bild“-Zeitung schon den vorläufigen Wert für November kennt, obwohl der noch gar nicht veröffentlicht wurde.

Die dpa-Meldung trug den Titel „Wirbel um Zahlen zu rechtsextremen Gewalttaten“, was dem überaus ahnungslosen diensthabenden Nachrichten-Redakteur bei „Focus Online“ offenbar zu langweilig war. Er schmückte die ohnehin abwegige dpa-Geschichte noch weiter aus und verpackte sie so:

Wer hat geplaudert?

Eine Meldung über zurückgehende Zahlen bei rechtsextremer Gewalt hat für Wirbel gesorgt. Die Zahlen waren nicht amtlich, das BKA sucht nach der undichten Stelle. Eine angebliche Spur führt in den Bundestag.

Aus Zahlen ohne Aussagekraft (die aber ohnehin jeden Monat veröffentlicht werden) sind also nun Zahlen von höchster Brisanz geworden (die jemand lanciert hat, obwohl sie eigentlich geheim gehalten werden sollten).

Das ist nun die Art Meldung, auf die der hysterisch-paranoide Mob der Möchtegern-politisch-Inkorrekten gewartet hat. Diese Leute sind der Meinung, dass Ausländer und Moslems dieses Land in den Untergang führen, und dass ihnen dabei eine Verschwörung der Massenmedien und der herrschenden Klasse hilft, die Meldungen über Ausländerkriminalität unterdrücken und die Gefahr durch deutsche Neonazis übertreiben. Man findet diese Leute in besonders konzentrierter Form bei „Politically Incorrect“, einer riesigen Internet-Selbsthilfe- und Selbstbestätigungsgruppe für Menschen, die nicht verstehen, warum sie Rassisten sein sollen, obwohl sie doch nur was gegen Moslems und andere Ausländer haben, aber auch massenhaft in den Kommentarspalten vieler Medien.

Diese Leute verstehen die „Focus Online“-Meldung nun als Beweis für ihre Verschwörungstheorie. Jemand habe verbotenerweise ausgeplaudert, was eigentlich geheim bleiben sollte: dass das mit der Neonazi-Gewalt gar nicht (mehr) so schlimm ist (nachzulesen u.a. in den Kommentaren auf „Focus Online“, natürlich bei „Politically Incorrect“, mit Kommentaren wie: „Der Kampf gegen Rechts ist die SA der LinksgrünInnen“, aber auch in ähnlich schlimmer Form in der „Readers Edition“). Wenn irgendwann im Frühling die tatsächlichen Zahlen über rechte Gewalt veröffentlicht werden (von denen noch unbekannt ist, ob sie zugenommen oder abgenommen hat, deren Zahl aber auf jeden Fall drastisch über den von „Bild“ genannten liegen wird, weil das in der Natur der Sache der vorläufigen Zählung liegt), dann werden diese Leute auch das wieder als Bestätigung für ihre krude Weltsicht interpretieren: Man habe die Zeit genutzt, so lange die Zahlen zu manipulieren, bis das rauskam, was rauskommen sollte, nämlich dass Nazis immer noch ein großes Problem sind, obwohl doch in Wahrheit die Ausländer das Problem seien.

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Hinter der hier exemplarisch beschriebenen Form der flächendeckenden Desinformation steckt keine Panne. Sie hat System. Wenn „Bild“-Chefkorrespondent Einar Koch in seinem Wahn, die Zahl rechtsextremer Gewalt kleinschreiben zu wollen (oder auch nur derjenige zu sein, den alle mit der Exklusiv-News über die Zahl rechtsextremer Gewalt zu zitieren) nächsten Monat oder nächstes Jahr wieder denselben Unsinn veröffentlicht, wird wieder genau dasselbe passieren.

„Report München“ und die Vorratsdaten

Am vergangenen Montag berichtete „Report München“, wie der Datenschutz in Deutschland angeblich die Verfolgung von Straftaten behindert. Konkret ging es um die vermeintlichen Folgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes im vergangenen März, Teile des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung vorläufig außer Kraft zu setzen, weil sie den Persönlichkeitsschutz erheblich gefährdeten.

Ein komplexes Thema, aber „seriöse Information“ ist ja ein Markenzeichen von „Report München“ (sagt jedenfalls „Report München“), und die Redaktion von „Report München“ hat ja den Anspruch, „nach sorgfältiger Recherche auch bei schwierigen und unbequemen Themen deutlich Stellung zu beziehen, Hintergründe zu beleuchten und zu analysieren“.

Das mit dem Deutlich-Stellung-Beziehen ist unbestritten, bei der Analyse, der sorgfältigen Recherche und der seriösen Information hatte ich bei dem Bericht (Manuskript, Video) angesichts des Widerspruchs z.B. von netzpolitik.org so meine Zweifel. Ich habe deshalb der Pressestelle des BR und der Redaktion von „Report München“ per Email folgende Fragen gestellt:

In dem „Report“-Beitrag heißt es: „Nach der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 11. März 2008 hätte die Nürnberger Kripo kaum eine Chance gehabt, den Vergewaltiger mithilfe gespeicherter Handydaten zu fassen.“ Wie kommen Sie zu diesem Urteil? Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Eilentscheidung festgestellt, dass die Weitergabe der Daten zulässig ist, „wenn Gegenstand des Ermittlungsverfahrens eine schwere Straftat im Sinne des § 100a Abs. 2 StPO ist, die auch im Einzelfall schwer wiegt, der Verdacht durch bestimmte Tatsachen begründet ist und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre“. Handelt es sich bei einer Vergewaltigung (§ 177 StGB) nicht um eine solche schwere Straftat im Sinne des § 100a?

In dem „Report“-Beitrag kommt, scheinbar als Beleg für Ihre These, Horst Hanschmann zu Wort. Er sagt: „Wenn das Handy nicht geraubt worden wäre, wäre nur in Anführungszeichen ein Verbrechen der Vergewaltigung vorgelegen und eine Ermittlung des Täters wäre vermutlich nicht möglich gewesen.“ Können Sie mir erklären, was diese Aussage mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu tun hat? Der Polizist sagt, wenn das Handy nicht geraubt worden wäre, hätte man den Täter nicht mithilfe des Handys ermitteln können. Das ist unzweifelhaft wahr, so wie man einen Täter auch nicht mithilfe seiner Fingerabdrücke ermitteln kann, wenn er Handschuhe trägt. Was hat das mit der Gesetzeslage zu tun?

In dem „Report“-Beitrag heißt es: „Nur aufgrund der Klage einer Bürgerinitiative mussten die Karlsruher Richter entscheiden.“ Können Sie mir erklären, was Sie mit dem Wort „nur“ meinen?

In dem „Report“-Beitrag heißt es: „Vergewaltigung zählt demnach nicht mehr als schwere Straftat.“ Können Sie mir die Quelle für diese Aussage nennen?

In dem „Report“-Beitrag heißt es über den „spektakuläre[n] Fall der Münchner U-Bahn Schläger“, dass u.a. „die Auswertung der Handydaten zur Festnahme der Täter innerhalb weniger Stunden“ geführt habe, was „die ganze Absurdität der Diskussion“ zeige. Können Sie mir sagen, in welcher Weise es gelang, mithilfe des Gesetzes zur Datenvorratsspeicherung, das am 1. Januar 2008 in Kraft trat, 2007 Kriminelle dingfest zu machen?

In dem „Report“-Beitrag heißt es: „Vergewaltigung? Ein Verbrechen, das offensichtlich nicht schwer genug ist, um den Zugriff auf die Handydaten möglich zu machen.“ Können Sie mir eine Quelle für diese Einschätzung nennen?

Am Freitag erhielt ich daraufhin folgende Email von Oliver Bendixen und Sabina Wolf, den Autoren des Beitrages:

Herzlichen Dank für Ihr Interesse an unserer Sendung Report München vom 25. August 2008 und Ihre Anmerkungen zum Thema Vorratsdaten.

Eine nicht-anlassbezogene Speicherung von Telekommunikationsdaten ängstigt viele Bürger. Oft wird dabei allerdings übersehen, dass diese Daten für die Ermittlungsarbeit zahlreicherer Straftaten wichtig sind. Gerade in den Bereichen Körperverletzung mit Todesfolge, Vergewaltigung, Stalking, Amoklauf und Trickbetrug konnte die Polizei in der Vergangenheit Täter fassen. Nach dem Eilentscheid des Bundesverfassungsgerichts wurde dieser Ermittlungsweg gestoppt.

Die Behörden sind immer dann auf Telekommunikationsdaten angewiesen, wenn andere Spuren am Tatort, wie etwa Täter-DNA nicht vorhanden oder auswertbar ist. Vielen Bürgern ist nicht bewußt, dass durch die Auswertung der Telekommunikationsdaten nicht nur bereits begangene Einzeltaten aufgeklärt werden konnten, sondern mit der Überführung der Täter gleichzeitig künftige Straftaten verhindert wurden. Dies kam bisher allen Bürgern zu Gute.

Die Ermittlungsbehörden durften bisher zudem nicht ohne richterlichen Beschluss auf Telekommunikationsdaten zugreifen. Eine zusätzliche Kontrolle polizeilichen Handelns war deshalb stets gegeben.

Bürgerrechte sollten nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern auch gegen Kriminelle einschließen, so sehen das Opfervereinigungen, denen wir in unserem Beitrag durch das Aufzeigen einiger Einzelfälle eine Stimme geben wollten.

Die Autoren schließen mit der „Hoffnung“, mir „mit dieser Antwort weiter geholfen zu haben“. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um eine Antwort handelt.

andere Reaktionen auf den „Report München“-Beitrag

Unerträglich weniger unerträglich

Sprache ist verräterisch.

Die besorgniserregenden Konsequenzen des von SPD, CDU und CSU im Bundestag verabschiedeten Gesetzentwurfes zur Vorratsdatenspeicherung können andere besser beurteilen als ich. Ich kann es ertragen, dass Abgeordnete für dieses Gesetz stimmen, wenn sie ehrlich überzeugt sind, dass es einen Schutz gegen Terroristen darstellt; dass es die Freiheit, die es zu schützen vorgibt, nicht in einer Art Selbstmord aus Angst vor dem Tod zerstört; dass es mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar ist. Wenn jemand das glaubt, soll er für dieses Gesetz stimmen.

Eine Gruppe von 26 SPD-Abgeordneten1 glaubt das nicht und hat trotzdem für das Gesetz gestimmt. Und die Erklärung, mit der sie sich dafür rechtfertigen, ist erschütternd und für mich im wahren Sinne des Wortes unerträglich. Und ihre politische und logische Bankrotterklärung ist auch eine sprachliche.

Die von dem Münsteraner SPD-Bundestagsabgeordneten Christoph Strässer verfasste und im Bundestag von ihm und den anderen abgegebene „persönliche Erklärung“ beginnt mit dem Satz:

Trotz schwerwiegender politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken werden wir im Ergebnis dem Gesetzentwurf aus folgenden Erwägungen zustimmen.

Und schon mit dem scheinbar relativierenden Einschub der sinnlosen Worte „im Ergebnis“ beginnt der Versuch, die Tatsachen zu verschleiern. Aber das ist harmlos im Vergleich zu den mit Sprachmüll betriebenen Maschinen zur Nebelproduktion, die sie dann auffahren:

Grundsätzlich stimmen wir mit dem Ansatz der Bundesregierung und der Mehrheit unserer Fraktion dahingehend überein, dass die insbesondere durch den internationalen Terrorismus und dessen Folgeerscheinungen entstandene labile Sicherheitslage auch in Deutschland neue Antworten benötigt.

Was sind, bitteschön, die Folgeerscheinungen des internationalen Terrorismus und inwiefern machen sie unsere Welt unsicher?

Dabei sind wir uns auch bewusst, dass insbesondere durch die rasante Entwicklung der Telekommunikation auch in diesem Bereich Maßnahmen zur Verhinderung schwerster Straftaten notwendig sind.

Es ist die Telefon- und Computer-Technik, die uns gefährdet? Nicht die Radikalität der Menschen, die sie einsetzen? Welche „rasante Entwicklung der Telekommunikation“ meinen die Abgeordneten? Die Möglichkeit, E-Mails zu schreiben? Die Existenz von Handys? Oder was?

Auf der anderen Seite ist jedoch zu beachten, dass – nicht zuletzt befördert durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Freiheitsrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens haben und die Beachtung dieser Rechte immer wieder angemahnt wurde.

Wenn man das Wortgeklingel in der Mitte rausnimmt, steht da: „Es ist zu beachten, dass die Beachtung der Grundrechte immer wieder angemahnt wurde.“ Ja, in der Tat, das ist beachtlich: Dass es Menschen gibt, die finden, dass das, was „konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens“ hat, irgendwie konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens hat. Da kann man als Volksvertreter natürlich nicht einfach drüber hinweggehen, wenn man darüber hinweggeht. Da muss man schon eine „persönliche Erklärung“ abgeben!

In diesem Abwägungsprozess gilt für uns, dass Sicherheit keinen Vorrang vor Freiheit genießen darf, will man beides gewährleisten.

Das wäre ein eindrucksvollerer Satz, wenn er nicht in einem Text stünde, der erklärt, warum die Abgeordneten dafür stimmten, dass Sicherheit Vorrang vor Freiheit genießen müsse.

In den letzten Jahren hat es eine zunehmende Tendenz gegeben, ohne die Effektivität bestehender Gesetze zu überprüfen, mit neuen Gesetzen vermeintlich Sicherheit zu erhöhen und Freiheitsrechte einzuschränken. Der vorliegende Gesetzentwurf befördert diesen Paradigmenwechsel und ist deshalb bedenklich.

„Bedenklich“ also im Sinne von: „wir werden ihm zustimmen, aber nicht ohne öffentlich zu bedenken zu geben, dass es bedenklich wäre, ihm zuzustimmen“.

[Diverse angebliche „hohe Hürden“ bei der Umsetzung der problematischen Einschränkungen] machen den dargestellten Paradigmenwechsel weniger unerträglich.

Das sind doch Volksvertreter aus dem Bilderbuch: „Warum haben Sie für dieses Gesetz gestimmt?“ – „Ich fand es weniger unerträglich als das, was die anderen wollten. Also, auf einer Skala von 0 (schönes Glas Rotwein, Kaminfeuer, nette Musik) bis 10 (Hitler, Brustkrebs, Johannes B. Kerner), stimme ich für alles unter 9 Komma 5.“

Der Gesetzentwurf trägt (…) nach unserer Auffassung nicht den Makel der offensichtlichen Verfassungswidrigkeit auf der Stirn (…)

Entschuldigung, nennen Sie mich Klugscheißer, Wortklauber oder Schlimmeres, aber ich kann nicht ernsthaft mit Menschen diskutieren, die glauben, dass Gesetzentwürfe Stirne haben. Und die, anstatt das eigene Gewissen zu prüfen oder sich schlau zu machen, nur eine oberflächliche Gesichtskontrolle auf offensichtliche Kainsmale durchführen, bevor sie für Gesetze stimmen, die ihrer Meinung nach gut und gerne verfassungswidrig sein könnten, denn:

Eine Zustimmung ist auch deshalb vertretbar, weil davon auszugehen ist, dass in absehbarer Zeit eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird.

Mit solchen Leuten will man schon nicht zusammenarbeiten („Och, ich dachte, Du schaust eh nochmal drüber, dann muss ich ja nicht so genau…“), geschweige denn, dass man sich von ihnen die Gesetze machen und die konstitutiven Freiheitsrechte nehmen lassen möchte.

[via lawblog und überall]

1) Christoph Strässer, Niels Annen, Axel Berg, Lothar Binding, Marco Bülow, Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen, Martin Gerster, Renate Gradistanac, Angelika Graf, Gabriele Groneberg, Gabriele Hiller-Ohm, Christel Humme, Josip Juratovic, Anette Kramme, Ernst Kranz, Jürgen Kucharczyk, Katja Mast, Matthias Miersch, Rolf Mützenich, Andrea Nahles, Ernst Dieter Rossmann, Bernd Scheelen, Ewald Schurer, Wolfgang Spanier und Ditmar Staffelt.